Das Feigenblatt muss weg
Nun platzt auch noch Einem der Kragen, der die laute und bisweilen gehässige Diskussion bisher stumm, deswegen nicht weniger teilnehmend und jedenfalls zunehmend beschämt verfolgt hat. Ausgelöst hat dies ein durch den Berner Heimatschutz organisiertes und in den Räumen einer Berner Zunft, die unterdessen ihren verdächtigen, wenn nicht rassistischen Namen geändert hat (ohne allerdings auch die unübersehbaren Insignien ihrer Vergangenheit zu beseitigen), durchgeführtes Podiumsgespräch zu einem möglichen Umgang mit diskriminierenden, verletzenden Kunstwerken im öffentlichen Raum. Anlass dafür war wiederum – unter anderem, doch vor allem – das umstrittene Bild-Alphabet von Eugen Jordi und Emil Zbinden, entstanden 1949, in einem Berner Quartierschulhaus.
Ob das beanstandete Wandbild «weg muss», stehe hier vorerst nicht zur Diskussion, dafür die vielleicht dringlichere Frage, ob nicht das Feigenblatt, das diese Diskussion hergibt, endlich fallen müsste – das Feigenblatt, das unsere Scham ohnehin kaum zu bedecken vermag und jedenfalls eine würdige, von Anstand und Wissen auch um peinliche (gerade deshalb peinlich unterschlagene) aktuelle Kontexte geleitete Diskussion verhindert.
Dass auch die Schweiz, auch Bern, also wir alle, eine koloniale, rassistische, durch Sklavenarbeit profitable Vergangenheit haben, wissen Viele – und schämen sich dafür. Dass wir uns dafür letztlich nicht entschuldigen können, schmerzt. Die Bemühungen, sichtbare Zeichen dieser Vergangenheit aus dem öffentlichen Raum zu tilgen, auch einen nicht länger diskriminierenden alltäglichen Umgang im persönlichen, sozialen und politischen Umfeld zu lernen, zeugen davon – und dienen, leider eben liegt die Vermutung nahe, gleichzeitig als wohlfeiles Feigenblatt zur Bedeckung der eigentlichen Scham: nicht jener über eine ferne Vergangenheit, sondern einer bei weitem lästigeren über eine quasi-koloniale, nach wie vor kaum verhüllt rassistische, aus Ausbeutung profitierende Gegenwart.
So lange wir nicht darauf bestehen, dass unsere iPhones in menschenwürdigen Verhältnissen gefertigt werden, dass für T-Shirts, Kaffee und Bananen angemessene Preise zu bezahlen sind, so lange wir nicht andernfalls zum Boykott solcher Produkte bereit sind, wirken «woke» (An-)Klagen über vergangenes, nicht mehr gut-zu-machendes, beschämendes Tun des «Weissen Mannes» – bei aller Berechtigung und Notwendigkeit – zynisch und für betroffene Menschen wohl erst recht beleidigend und verletzend. Unsere heutigen Kolonien liegen im globalen Süden, sind die Plantagen und Fabriken der Dritten Welt, unsere nur notdürftig beschönigte Sklaverei findet im Rahmen florierender Konzerne, Kinderarbeit und Verarmung statt. Und Ausreden, es liesse sich nichts ändern, die korrupten Verhältnisse in Entwicklungsländern verunmöglichten nachhaltige Verbesserungen … zeugen wohl in der Tat von bleibenden rassistischen Haltungen. Die wiederum all jene zu spüren bekommen, die es auf wie immer gefährlichen Wegen als Migrantinnen oder Migranten hierher geschafft haben …
Dass Künstler wie Eugen Jordi und Emil Zbinden, die nachweislich um all dies wussten, darüber nachdachten und darob verzweifelten, deren solidarische und soziale Gesinnung sie weit über ein zu erwartendes und zumutbares Mass hinaus umtrieb, antrieb und in ihrer Kunst beschäftigte, mit einem ihrer Werke nun im Generalverdacht stehen und «weg müssen», schmerzt auch, wäre aber vielleicht in der Tat zu verschmerzen, wenn die Diskussion darüber – ganz in ihrem Sinn – in ehrlicher und echter Solidarität mit den Entrechteten der Vergangenheit, doch vor allem auch der Gegenwart, hier, doch auch anderswo, in auch durch unseren bedenkenlosen Konsum weniger prosperierenden Gesellschaften, geführt würde.
Oder anders: Im Kontext der Bearbeitung aktueller weltweiter Problematiken – und eigener historischer Verflechtungen – wäre das Alphabet gerade am jetzigen Standort vielleicht eine Chance zur Heranbildung von Kindern zu mündigen, solidarischen Menschen mit weitem kulturellem Horizont gewesen. Das Werk in museale Wirkungslosigkeit entsorgen zu wollen, hiesse dann, sich einer solchen Herausforderung und Verantwortung feige zu entziehen, sich lieber billiger Feigenblätter zu bedienen, sich um jeden Preis nicht bloss zu stellen.
Juni 2023